Das verlorene Paradies

Maria Lenz-Guttenberg lebte von 1907 – 1938 als Ehefrau und Assistentin des Kurarztes Dr. Otto Lenz auf Brioni. Nach ihrer Heirat war sie nicht nur Zeitzeugin, sondern auch aktive Mitwirkende zunächst an dem großen gesellschaftlichen Wandel und später an der Blüte von Brioni geworden. Sie war in der Ordination ihres Mannes tätig und hatte direkten Kontakt mit den Patienten, lebte aber zugleich in einer kleinen, isolierten Umgebung. Ihr gesellschaftlicher Rang ermöglichte ihr als „Frau Doktor“ überall Zugang, sie speiste täglich im Hotel und lernte viele Persönlichkeiten der damaligen Zeit näher kennen, die mehrere Monate auf der Insel zubrachten. Ihr Heim, das hübsche Bootshaus gleich neben den Hotels, war beliebter Treffpunkt, wo man immer Rat und Hilfe holen konnte; sie führte, wie es auch zu ihren Pflichten gehörte, ein reges Gesellschaftsleben. Nach der Geburt ihres Sohnes Gerhard am 11. Februar 1908 war es nicht ganz einfach, ihren vielen Terminen und Verpflichtungen nachzukommen. Obwohl Maria Lenz ihre musikalische Karriere bewusst aufgegeben hatte, erlosch nie ihre Liebe zur Musik und zum Gesang. Es stellte sich heraus, dass ihr Aufbruch in die kleine Inselwelt keinesfalls das endgültige Abschiednehmen von der Musik bedeutet hatte, sie sang des Öfteren vor erlesener Gesellschaft und genoss verschiedene musikalische Darbietungen sowie Fachsimpeleien. Die einstige Musikstudentin hätte nie geahnt, dass sie eines Tages viele Größen der Musik ihrer Zeit kennen lernen würde, mit einigen sogar singen dürfte. Sie verkehrte mit dem „König aller Baritone“, Josip Kašman, der berühmten deutschen Sopranistin Lilli Lehmann, dem Pianisten, Dirigenten und Komponisten Eugen d’Albert, dem Violinvirtuosen Bronislaw Huberman, dem polnischen Tenor Jan Kiepura, dem Komponisten Oskar Nedbal und vielen anderen. Sie lernte auch Richard Strauss kennen sowie J. B. Shaw, den einstigen Musikkritiker und später berühmten Dramatiker und Nobelpreisträger. Von Zeit zu Zeit hatte sie auch selbst Gelegenheit, bei verschiedenen Anlässen zu zeigen, dass sie nicht nur Frau und Assistentin des Inselkurarztes war. So trat sie im Jahr 1912 – wie von der Inselzeitung berichtet wurde – zweimal sehr erfolgreich öffentlich auf. Im April dieses Jahres hatte der Geiger Felix Lenz, Bruder ihres Mannes, zwei bejubelte Konzerte in Brioni gegeben, und nach dem zweiten Konzert wartete eine Überraschung auf die Besucher. Frau Lenz sang „mit einer schönen, delikaten Sopranstimme“ einige Lieder von Mozart sowie die Arie „Mi chiamano Mimi“ aus Puccinis Oper „La Bohème“. Dabei „zeigte sie ein beachtliches Talent“, und das Publikum, „angenehm überrascht von der Zugabe und entzückt von der liebevollen Interpretation, äußerte seinen Beifall eine ganze Minute lang“. Ende August desselben Jahres trat sie dann zusammen mit der Cellistin Elisabeth Bokmayer und dem Quartett Bauer bei einem Wohltätigkeitskonzert für Häftlinge auf. Sie sang drei Lieder von Hugo Wolf („Heute Nacht“, „Der Gärtner“, „Wiegenlied im Sommer“) und das Lied „Niemand hat’s gesehen“ von Carl Löwe. Der Musikkritiker der Inselzeitung lobte ihr Repertoire, „das … von erlesenem künstlerischen Geschmack zeigt … Beim Gesang der sanften Lieder von Hugo Wolf, die keine schnellen Effekte dulden, zeigte sie eine eigene Bescheidenheit, und die Kenner konnten sofort bemerken, mit welch innerer Anteilnahme und lyrischer Überzeugung sie ihren Vortrag gestaltet hat, gerade in einer Zeit, in der die Virtuosität gerne durch Effekte betont wird …“. Weiters fügte er hinzu, dass „Frau Lenz der breiteren Öffentlichkeit unbekannt ist wegen ihrer Verpflichtungen als Frau und Mutter, doch als Künstlerin erweckt sie das wahrhaft Schöne, das in uns allen ruht“.

Acht Jahre, nachdem Maria Lenz die von ihr so überaus geliebte Insel verlassen musste, schrieb sie in ihrer neuen Heimat Abazzia ihre Lebenserinnerungen „Das verlorene Paradies“ („Izgubljeni raj“) nieder. Sie beschreibt in ihren Memoiren alle Facetten des Alltags – als Zeugin der bescheidenen Anfänge, des glanzvollen Aufstiegs mit der Blütezeit um 1912/13, der italienischen Ära nach dem Ersten Weltkrieg und des beginnenden Verfalls in den 1930ern.

«Vor Jahren schon fassten mein Mann und ich den Vorsatz, einmal, in späterer Zeit, zurückblickend auf unser Leben auf der Insel Brioni, unsere Erinnerungen in einem kleinen Buch zu sammeln. Wir dachten damals, solche Aufzeichnungen könnten vielleicht ein freundliches Interesse finden bei jenen, die die Insel besucht hatten und liebten, und außerdem bei allen unseren Altersgenossen, in deren Lebensabschnitt dieselben Ereignisse fielen, die im damaligen Zeitraum die Gemüter bewegten. Denn vieles, ob es sich nun um geschichtliche oder künstlerische oder gesellschaftliche Vorkommnisse handelte, hatte zu Brioni eine Beziehung. Heute, nach den furchtbaren Ereignissen, die unsere Welt so schwer verwundet zurückließen, fragen wir uns allerdings, ob noch jemand Zeit und Lust haben wird, die Gedanken zurückkurbeln, um sich erzählen zu lassen, wie diese schöne Insel nach jahrhundertelanger Verwilderung zum Leben erwachte, wie sie aufblühte, was alles sich dort ereignete und wie auch sie der Zerstörung anheimfiel, sodass der ganze Zauber wieder erloschen ist. In unserer Erinnerung ist aber alles unvergessen, und so will ich versuchen, zu Papier zu bringen, was wir dort in mehr als drei Jahrzehnten erlebten.»
Maria Lenz-Guttenberg, Opatija 1946

Deutsche Texte mit freundlicher Genehmigung zur Veröffentlichung auf dieser Website zur Verfügung gestellt von Simona Goldstein/Antibarbarus.